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Berufsberatung | Kapitel 1


Nur noch einen Monat. Dann war es geschafft und jeder würde sein Zeugnis in der Hand halten. Na ja, abgesehen von denen, die eine Ehrenrunde drehen mussten. Die Prüfungen waren vorbei, doch der eigentliche Wahnsinn ging erst los. Jetzt ging es darum, einen Ausbildungsplatz oder einen Studienplatz zu ergattern. Wer keinen Platz bekam, musste zum Militär oder bei Untauglichkeit Sozialdienst leisten. Zwischen Jungen und Mädchen wurde dabei kein Unterschied gemacht. Für den Nachmittag war eine Berufsberaterin angekündigt, die allen Schülern, je nach Lebenslauf, ihre Möglichkeiten erklären sollte. Was ziemlich lächerlich war, da die Schüler eigentlich keine Wahlmöglichkeiten hatten.
„Liam, hast du gehört, was ich gesagt habe?“, fragte Mr. Turner. Liam schreckte hoch. Er hatte die letzten Minuten gedankenverloren aus dem Fenster geschaut.
„Nein, tut mir leid, ich habe Sie akustisch nicht verstanden.“ Zugeben, dass er gerade nicht aufgepasst hatte? Sicher nicht.
Mr. Turner grinste.
„Ich habe gerade gefragt, ob ihr alle an eure Formulare gedacht habt. Mrs. Green wird sehr ungehalten sein, wenn ihr das Formular nicht zur Hand habt.“
Als Antwort streckte Liam nur den Daumen in die Luft. Mr. Turner nickte zufrieden und fuhr fort.
Mason, Liams Banknachbar und gleichzeitig bester Freund, stieß ihn mit dem Ellenbogen an.
„Was?“, fragte Liam genervt.
„Schau dir Oliver an. Es dauert nicht mehr lange und er platzt.“
Liam lachte leise und musste seinem Freund insgeheim zustimmen. Oliver saß drei Tische schräg weiter vorne und hatte schon ganz rote Ohren. Er war ein unsportlicher, schlaksiger Junge von mittlerer Statur. Mit seiner blassen Haut, den Sommersprossen und der Straßenköter-Haarfarbe entsprach er voll und ganz dem Klischee eines Nerds. Liam und Mason hatten sich im vorigen Schuljahr während eines Klassenprojekts, dem sie zugeteilt waren, mit Oliver angefreundet. Dabei hatten sie schnell entdeckt, dass Oliver ein kleines Genie mit einem stark zynisch ausgeprägten Humor war, das noch dazu verdammt gut zocken konnte und fluchte, dass selbst Liam und Mason die Ohren wackelten. Oliver war in keiner Hinsicht ein zurückhaltender oder gar schüchterner Junge. Ging es um das Ausbildungssystem oder die Politik im Lande, so konnte er sich mit seiner Meinung kaum zurückhalten.
Er hatte schon unzählige Male nachsitzen müssen, denn viele Lehrer duldeten sein Verhalten nicht. Mr. Turner hingegen war verständnisvoller, da er den Frust seiner Schüler oft nachvollziehen konnte.
„Habt ihr euch auch alle für einen Termin bei ihr angemeldet? Die Liste zum Eintragen ging ja mehr als eine Woche herum. Jeder von euch sollte einen Slot bekommen haben“, sagte Mr. Turner und wartete darauf, dass sich jemand meldete.
Alle murrten nur zustimmend. Olivers Ohren färbten sich langsam lila. Liam und Mason grinsten breit und Mason setzte zum üblichen Countdown an:
„Drei.“
„Okay, dann gebe ich euch noch ein paar Tipps mit für das Gespräch“, sagte Mr. Turner ermutigend.
„Natürlich weiß Mrs. Green bereits über euer vorheriges Leben Bescheid. Trotzdem wird sie euch kurz dazu auffordern, etwas darüber zu erzählen. Bleibt dabei sachlich, werdet nicht emotional und lügt unter keinen Umständen.“
„Zwei“, ergänzte Liam leise. Oliver fing an mit den Fingern auf seine Tischplatte zu trommeln.
„Erklärt ihr, warum ihr gerne eine Ausbildung oder ein Studium machen möchtet und welche Fähigkeiten ihr dafür mitbringt. Wenn es nicht das gleiche ist, was ihr im letzten Leben schon gemacht habt, dann lasst euch nicht unterkriegen und bringt gute Argumente, warum ihr etwas Neues lernen solltet.“
„Eins“, gluckste Mason, der sich kaum noch halten konnte und just in diesem Moment haute Oliver mit seiner Faust auf den Tisch.
„Was für ein Bullshit!“
Mr. Turner seufzte, ließ Oliver jedoch beim Anblick der belustigten und erwartungsvollen Gesichter seiner Klassenkameraden gewähren.
Wie jedes Mal stand Oliver schwungvoll auf – im Sitzen hatten seine Tiraden keinen dramatischen Effekt – und fing wild gestikulierend zu wettern an.
„Wir sterben und kommen wieder auf die Welt. Wenn wir als feuchter Furz diesen Erdball erreicht haben, beten unsere Eltern inständig, dass sie doch gerade hoffentlich ein berühmtes, intelligentes und erfolgreiches kleines Scheißerle produziert haben. Falls sie einen Massenmörder geboren haben, wird der kleine Saftsack natürlich sofort der Heiligenstätte zur Adoption auf die Matte geworfen!“
„Oliver, Ausdrucksweise!“, unterbrach ihn Mr. Turner schmunzelnd.
„Ja, aber ist doch so!“, bekräftigte Oliver und holte Luft, um fortzufahren.
„Es wird alles erfasst und gespeichert und auch wenn du neu geboren wirst, bleibt dir der Scheiß aus deinem alten Leben am Arsch kleben! Es interessiert niemanden, wenn man jemand anderes sein will und auch heute werden wir alle nur wieder dazu gezwungen den gleichen scheiß Job wie in unserem letzten scheiß Leben zu machen!“
„Und dann …“ – wollte Oliver weiterreden, doch Mr. Turner unterbrach ihn nun doch.
„Oliver, ich weiß, dass unser System sehr viele Schwächen hat und nicht immer fair ist. Aber glaub mir, du wirst dir mit einem Tobsuchtsanfall wie diesem gerade mehr Türen zumachen als aufstoßen.“
„Als ob ich überhaupt eine Chance darauf hätte, etwas anderes zu lernen!“, schnaubte Oliver empört.
„Es gibt haufenweise finanzielle Unterstützung, wenn man wieder das Gleiche macht wie im letzten Dasein und die Ausbildung dauert nur ein Jahr! Wenn ich aber etwas komplett anderes machen möchte, muss ich zwanzigtausend Formulare ausfüllen, einen Sack voll Geld haben, eine Erlaubnis bekommen und dann mindestens drei Jahre eine Aus-bildung absolvieren in einer Firma, die vielleicht zwei oder drei Mitleidsplätze dafür anbietet!“
Mr. Turner setzte gerade zu einer beschwichtigenden Antwort an, doch die Pausenglocke kam ihm zuvor. Ein erleichtertes Seufzen ging durch das Klassenzimmer und jeder fing an, seine Sachen zusammenzuräumen. Oliver ärgerte sich, dass er nicht zu Ende reden konnte und stürmte wutentbrannt zur Tür hinaus. Mr. Turner sah ihm traurig nach. Er würde dem Jungen so gern helfen, doch Oliver hatte recht. Das System war hart und unfair.


[........] Auszug aus fortgeschrittenem Kapitelverlauf [...........]


Liam ging zum Eingang und merkte, wie sein Herzschlag schneller wurde. Nach allem, was er von seinen Freunden den Tag über mitbekommen hatte, war er nun doch ziemlich aufgeregt. Von ihnen allen hatte er zumindest noch die besten Karten.
Er ging in das Klassenzimmer und setzte sich vor das Lehrerpult auf einen Stuhl. Mrs. Green war noch nicht zurück von ihrem Umparkmanöver. Auf dem Pult lagen verschiedene Blätter, Stifte und ein Stempel. Liam blickte sich um und nahm den Stempel in die Hand, um ihn näher zu betrachten. Auf der noch mit Tinte befeuchteten Unterseite stand „Empfohlen im Namen der staatlichen Berufsberatungsgesellschaft“. Dieser dämliche Stempel entschied also darüber, ob man mit seiner Wunschausbildung weitermachen konnte oder von der Bank einen Kredit gewährt bekam.
In diesem Moment kam Mrs. Green herein und sah ihn erstaunt an, wie er da so mit dem Stempel in der Hand saß. Liam legte ihn hastig zurück auf den Tisch.
„Es tut mir leid, ich war neugierig, was auf diesem Stempel steht und wollte ihn mir nur mal anschauen.“
Mrs. Green lächelte und setzte sich ihm gegenüber.
„Schon gut. Neugierde ist keine Sünde. Übrigens würde es Ihnen sowieso nichts bringen, den Stempel zu stehlen und heimlich zu benutzen. Mein Zeichen fehlt noch auf dem Formular und wird erst im Nachhinein hinzugefügt, damit es fälschungssicher ist.“
Das wusste Liam tatsächlich nicht und nickte nur stumm.
„Wo wir schon dabei sind, bitte strecken Sie einmal den Arm aus, damit ich Ihr Zeichen einlesen kann“, fuhr Mrs. Green in lockerem Ton fort und griff dabei zu einem tragbaren Scangerät auf ihrem Schreibtisch, das Liam auch von Arztbesuchen oder Bankbesuchen kannte. Damit konnte in nur wenigen Sekunden die Identität ausgelesen werden, eine Art digitale Lebensgeschichte.
Liam krempelte seinen Ärmel nach oben und legte den Arm mit der Unterseite nach oben vor ihr auf den Tisch. Sein Zeichen hob sich deutlich von der Haut ab, da er tief gebräunt war. Das silbrig-weiß schimmernde, rund geformte Symbol verfärbte sich nie und verheilte auch bei Verletzungen, z. B. einer Brand- oder Schnittverletzung, in kürzester Zeit.
Mrs. Green hielt den Scanner direkt über sein Zeichen. Dieser gab nach nur einer Sekunde einen Piepton von sich und Mrs. Green sah auf ihren Computerbildschirm.
„Ah, da haben wir Sie ja auch schon. Mr. Liam Wilson, neunzehn Jahre alt, 1,85m groß, schwarze Haare und graue Augen. Sie wurden im Eastern Territory geboren und sind Sohn eines Buchhalters und einer Rechtsanwaltsgehilfin.“
Mrs. Green stockte kurz und räusperte sich.
„Tut mir sehr leid, dass Sie Ihre Eltern verloren haben. Ein Autounfall?“
Liam wusste, dass sie nur aus Mitgefühl fragte, schließlich waren all diese Informationen hinterlegt.
„Ja, vor fünf Jahren. Ihr Auto hat sich bei einem Sturm überschlagen und ist eine Böschung hinabgefallen. Seitdem lebe ich bei meinen Großeltern. Meine Großmutter ist allerdings auch schon verstorben. Sie erlag letztes Jahr nach langem Kampf ihrem Magenkrebs.“
Mrs. Green wusste einen Moment nichts zu sagen und starrte ihn nur mitleidig an. Liam kannte das schon zur Genüge. Es war den Leuten furchtbar unangenehm, da es schwer war, sich in seine Situation hineinzuversetzen. Doch vielleicht half ihm dieses Mitgefühl nun im Gespräch.
Mrs. Green fuhr fort.
„Sie waren in Ihrem letzten Leben ein Autoverkäufer im Western Territory. Und Sie haben auch eine gute finanzielle Situation gehabt – keine Schulden, wie ich sehen kann. Das ist sehr gut.“ Sie scrollte weiter nach unten und nickte zwischendurch. „Okay und auch keine Vorstrafen, keine Kinder, aber verheiratet gewesen.“
Liam lächelte.
„Ja, ich erinnere mich an die Frau meines Vorgängers. Als ich acht Jahre alt war, kamen langsam die Erinnerungen zurück und ich lag meinen Eltern ewig in den Ohren, dass ich sie gerne mal kennenlernen möchte.“
„Und haben Ihre Eltern sie ausfindig machen können?“
„Ja, allerdings verstarb meine Frau kurz nach meinem Tod. Sie kam kurz darauf im Norden wieder zur Welt, sprich wir müssten nun ungefähr im gleichen Alter sein.“
„Kennen Sie sie persönlich?“, bohrte Mrs. Green neugierig weiter.
Liam lachte.
„Nein, als ich erfuhr, dass sie gestorben ist, hatte ich kein Interesse mehr daran, sie kennenzulernen. Sie war ja genau wie ich ein neuer Mensch. Das ist nichts Spannendes. Spannend wäre gewesen, als kleiner achtjähriger Junge seiner ehemaligen Ehefrau, die schon sehr alt und gebrechlich wäre, gegenüberzustehen.“
„Lachen Sie nicht Mr. Wilson, das kommt häufig vor, dass Verwandte nach Verstorbenen suchen, weil sie deren Tod nicht verarbeiten oder akzeptieren können. Sie hoffen darauf, in dem neuen Menschen wieder ein Stück des vorherigen Charakters zu finden, egal ob es der Sohn, der Vater, der Großvater, eine Schwester oder eine Tante war.“
„Ja das stimmt, aber zwei Familien wären doch sehr anstrengend, finden Sie nicht?“
Mrs. Green lächelte zustimmend.
„Da haben Sie allerdings recht. Schon komisch, wenn der Opa auf einmal von seinen Enkeln gewickelt werden und seiner damaligen Ehefrau beim Füttern Essen ins Gesicht werfen würde.“
So viel Humor hatte Liam Mrs. Green gar nicht zugetraut. Sie schauten sich nach ihrem Kommentar kurz an und lachten gleichzeitig los.
Als sie sich wieder gefangen hatten, fuhr Mrs. Green mit ihrer Befragung fort.
„Wissen Sie denn schon, in welchem Autohaus Sie gerne eine Ausbildung anfangen möchten? Haben Sie Favoriten? Sie möchten doch bestimmt wieder zurück in den Westen.“
„Hm, eigentlich möchte ich kein Autoverkäufer mehr sein. Ich kann es mir nicht vorstellen, den Leuten die ganze Zeit etwas zu verkaufen. Das liegt mir einfach nicht. Aber was ich gut kann ist Autos reparieren. Ich kenne jedes Teil in und auswendig. Mein Vater hat mir einen Chevrolet Impala Cabriolet hinterlassen, den ich hege und pflege. Und ich möchte auch gerne hierbleiben, meine ganzen Freunde sind hier. “
Mrs. Green sah ihn ungläubig an.
„Sie wollen hierbleiben und auch noch so einen guten Beruf wie den eines Autoverkäufers verschmähen? Denken Sie doch an all das Geld, das sie verdienen können!“
Liam schüttelte den Kopf und holte tief Luft.
„Mrs. Green, es macht mir einfach Spaß, Autos zu reparieren. Und genug Geld zum Leben verdient man damit auch. Ich muss nicht reich werden und Sie wissen selbst, dass man das im Norden oder Osten auch nicht wird. Bitte! Es gibt genügend Betriebe, die mich brauchen könnten.“
Mrs. Green schüttelte immer noch voller Unverständnis den Kopf.
„Na ja, also in ein Tauschprogramm bringe ich Sie mit Leichtigkeit. Ein Mechaniker, der aufsteigen möchte, wird Ihnen für den Tausch die Füße küssen, da besteht kein Zweifel. Wir müssen dann allerdings noch einen Betrieb finden, der gewillt ist, Sie drei Jahre auszubilden.“
„Wenn mich der Betrieb nur einmal an ein Auto ranlässt, kann ich unter Beweis stellen, dass ich nicht lange ausgebildet werden muss“, erwiderte Liam selbstbewusst.
Mrs. Green zog die Augenbrauen hoch.
„Ach? Gleich so gut sind Sie?“
Liam grinste.
„Wie lange hören Sie denn schon das Klopfen in Ihrem Auto? Wurde zufällig vor Kurzem Ihre Kupplung erneuert?“
Mrs. Green klappte die Kinnlade herunter.
„Ja woher wissen Sie denn das? Ich war vor zwei Monaten in einer Werkstatt wegen meiner Kupplung und seitdem höre ich immer so ein leicht schlagendes Geräusch rechts vorne! Es treibt mich noch in den Wahnsinn!“
„Soll ich Ihnen sagen, was es meiner Meinung nach ist?“
„Ja natürlich will ich es wissen, jetzt rücken Sie schon raus damit!“, rief Mrs. Green ungeduldig.
Liam atmete innerlich tief durch und drückte sich selbst die Daumen, dass sein Schachzug funktionieren würde, den er nun vorhatte. Er musste alles auf eine Karte setzen.
„Mrs. Green, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Kommen Sie mit Ihrem Auto zu mir in die Werkstatt, beziehungsweise meine Garage. Da habe ich alles Nötige an Werkzeug, um Ihr Auto reparieren zu können. Wenn es mir gelingt, geben Sie mir das Formular mit einer Empfehlung für ein Tauschprogramm und eine Ausbildung zum Mechaniker in einem Betrieb im Eastern Territory.“
Mrs. Green lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und betrachtete ihn mit Argusaugen. Mit dieser Kühnheit hatte sie nicht gerechnet. Liams Handflächen wurden feucht und er war sich nicht sicher, ob er gerade zu weit gegangen war. Doch da grinste sie plötzlich schelmisch.
„Und Sie wollen kein Autoverkäufer mehr sein? Na, die Erinnerung ans Verhandeln ist jedenfalls noch bestens vorhanden, das merke ich schon.“
Liam antwortete nicht, sondern wartete darauf, dass sie fortfuhr.
„Nun gut, dann sei es so. Heute schaffe ich es nicht mehr, aber kann ich morgen früh bei Ihnen vorbeikommen – sagen wir halb acht?“
Mrs. Green stand dabei auf und hielt ihm die Hand hin. Liam schlug ein.
„Gerne, ich werde da sein.“
Er wandte sich zum Gehen, da hielt ihn Mrs. Green noch mit einer Frage zurück.
„Mr. Wilson, ich bin nun doch neugierig. Was ist die Ursache für das schlagende Geräusch?“
Liam schüttelte lächelnd den Kopf.
„Wenn ich Ihnen das nun verrate, könnten Sie auch einfach in jede beliebige Werkstatt fahren und es dort reparieren lassen. Ich sage es Ihnen gerne morgen, wenn ich mein Formular in der Hand halte.“
Mrs. Green schmunzelte.
„Touché, Mr. Wilson.“

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